Renate Kohn im Hörstudio

Eigentlich nicht zum Hören geschrieben

Impressionen aus einem Tonstudio, in dem ein Hörbuch aufgezeichnet wird

Von unserem Redaktionsmitglied Doreen Reber

"Wie könnt Ihr es wagen?", empört sich Renate Kohn und blickt zornig über ihren Schreibtisch.
"Oh, ich wage alles!", antwortet sie wütend, als sei sie im Zwiegespräch mit sich
selbst. Eine Stimme aus dem Äther holt sie jäh in die Realität zurück:
"Könntest du das ein wenig süffisanter sagen? Sie ärgert sich schon die ganze Zeit über diesen Typen, und jetzt kann sie es ihm zeigen."

Schauspielerin und Sprecherin Renate Kohn nickt durch eine Glasscheibe zu Hörbuch-Regisseur Matthias Morgenroth und setzt noch mal an, verzieht das Gesicht zu einem heuchlerischen Lächeln und spricht mit der gewünschten süffisanten Stimme. Satz für Satz, Passage für Passage liest sie sich durch das 140 Seiten dicke Manuskript des Kriminalromans "Die Heilerin von Canterbury und die Bruderschaft des Todes". Unterbricht sich selbst – "Nein, ich fang noch mal an!" – oder wird unterbrochen, wenn Morgenroth den roten Knopf in seiner rechten Hand drückt: die akustische Verbindung zu ihr ins schalldichte Zimmer. Dann hat es, für den Laien kaum hörbar, geploppt, geknackt oder zuviel Spucke im Mund hat die Aufnahme unsauber gemacht.
Das Tonstudio für die Aufnahmen des noch jungen Hörbuch Verlages Eichborn Lido (2001 gegründet) liegt zwischen beschaulichen Einfamilienhäusern in Wiesbaden-Frauenstein und ist kaum größer als ein mit Mischpult, Boxen und Computern voll gestopftes Wohnzimmer.

Renate Kohn – bekannt als Anwaltssekretärin in der Fernsehserie "Ein Fall für Zwei" – hat es sich für diesen Auftrag gewünscht, nicht nur, weil sie ganz in der Nähe wohnt: "Es ist gemütlich und familiär", erklärt sie, das Team – neben dem Regisseur noch Tonmeister Holger Jung – sei entsprechend entspannt: "Wir merken so kaum, dass wir arbeiten."

Regisseur Matthias Morgenroth hingegen hat sich Renate Kohn als Sprecherin gewünscht: "Sie hat das nötige Stimmspektrum und das Durchhaltevermögen für den relativ langen Text", sagt er und meint die verschiedenen Rollen, die Kohn über drei Aufnahme-Tage in der gleichen Qualität, aber mit der jeweiligen Charakteristik in der Stimme sprechen muss. "Dabei sind es – und darin unterscheiden sich Sprechen und Schauspielerei kaum voneinander – die glatten Typen, die es einem schwer machen", sagt Kohn. Ein raubeiniger Gastwirt sei wegen seiner Facetten viel leichter zu sprechen als etwa der korrekte, verschlossene Gesandte der Herzogin.
Auch wenn sie einige Männer zu sprechen hat, leiht sie hauptsächlich einer Frau mittleren Alters ihre Stimme: der Hauptfigur Kathryn Swinbrooke, einer Apothekerin und Ärztin, die im Jahr 1472 den Tod des Mönchs Roger Atworth aufklärt. Dieser verstarb mit Stigmata am Körper.

Kathryn soll vor der Heiligsprechung als Advocatus Diaboli das Mysterium untersuchen und kommt schnell zu einem Ergebnis: Bei Atworths Tod hat jemand nachgeholfen. Die Buch-Reihe der historischen Krimis um die "Die Heilerin von Canterbury" verkauften sich im Eichborn-Verlag sehr erfolgreich, "meist ein Argument dieses auch als Hörbuch herauszubringen", erläutert Simone Altheim, Pressesprecherin des Hörbuch-Verlages Eichborn Lido. Etwa 50 Prozent der selbst aufgelegten Bücher bei Eichborn werden auch vertont, jährlich bringt der Verlag bis zu 25 Hörbücher auf den Markt. Historische Krimis sind immer mal wieder dabei, aber "obwohl sie eine große Fangemeinde haben, nehmen sie für unser Hörbuch-Programm keine besondere Stellung ein", erklärt Altheim. Was vertont werde, entscheide das Angebot im eigenen Verlag, aber auch das anderer Verlage. Denn durchaus greife Eichborn Lido nach "Schätzen" der Konkurrenz und kaufe die Hörbuch-Rechte von in anderen Häusern verlegten Büchern, erklärt Altheim.

Doch nicht jedes Buch könne vertont werden, manchmal sei etwa die Handlung zu verstrickt. Nicht nur, dass der Hörer dann überfordert sei, schon das Kürzen des Textes werde zum Problem. Etwa wenn Details entfallen, die später im Text als bekannt vorausgesetzt werden. Eine Tücke, der auch die um ein Drittel gekürzte Hörbuchfassung der "Heilerin von Canterbury" erlag. Der Umstand, wie der zweite Mönch zu Tode gekommen ist, wird plötzlich als Mord bezeichnet, obwohl man bisher im Text vom Selbstmord ausgegangen ist. Tonmeister Holger Jung, dem ersten unbefangenen Hörer der künftigen Hörbuchfassung, ist es aufgefallen. Morgenroth bügelt die kleine Unlogik mit einem Stift auf seinem Skript aus – eine von vielen Veränderungen für ein besseres Sprechen: So wird aus Zungenbrechern wie Mistress Swinbrooke und Atworths Sarg kurzerhand Mistress und der Sarg von Atworth.
Überhaupt seien die englischen und keltischen Namen eine Herausforderung gewesen. Eigens ein Experte für englische Geschichte wurde konsultiert, der die korrekte Aussprache ermittelte. Sprecherin Kohn erhielt diese auf CD gebrannt zur Vorbereitung, das spare Zeit während der Aufnahme, so Morgenroth. Kohn sei in solchen Sachen ein Vollprofi. So habe sie sich auch die oft minimalen Eigenheiten der Stimmen der verschiedenen Rollen und Stimmungen vorab zurechtgelegt und müsse sich nicht erst lange darauf einstellen, lobt der Regisseur.

Nochmals drei Tage werden Regisseur und Tonmeister für das Schneiden der digitalisierten Aufnahme benötigen. Versprecher und Geräusche werden entfernt, mehrere Fassungen einzelner Sätze ausgewählt und eingepasst. Texten mit minimalen akustischen Mitteln die nötige Atmosphäre zu verleihen, ist seine Spezialität, "darum haben wir ihn für dieses Projekt ausgewählt", sagt Altheim.

Bei diesem setzt Morgenroth primär auf Musik. Gregorianische Gesänge sollen für die andächtige Stimmung im Kloster sorgen, Klänge mittelalterlicher Instrumente werden den Hörer in die verspielte und wohlhabende Umgebung bei Hofe versetzen. Viel mehr soll die Lesung von Renate Kohn gar nicht untermalen, sonst mutiere das schnell zu einem anderem Genre, dem Hörspiel, meint Morgenroth. Musik und Geräusche seien nur Akzente, dienten dem Versuch "ein Buch, das eigentlich nicht zum Hören geschrieben wurde", in ein anderes Medium – das Hörbuch – zu
übertragen.

Der eigentliche "Stimmungsmacher" sei Sprecherin Kohn. Sie entscheide mit Nuancen über Emotionen wie etwa beim großen Finale: Der Mörder ist entlarvt und will die Ermittlerin durch einen Dolchstoß zum Schweigen bringen.
Eine lange Passage schildert den Kampf. Kohn muss hastig, aber dennoch deutlich lesen und die Spannung hochfahren. Mehrmals muss sie für den Absatz ansetzen, denn Worte und Sätze folgen Schlag auf Schlag – wie die Dolchhiebe gegen die Protagonistin. Stühle werden umgestoßen, ein Weinkrug fliegt zum Angreifer. Unermüdlich setzt sich Kathryn über mehrere Sätze zur Wehr, dann eilt ein Mann ihr zu Hilfe, keine Chance für Kohn abzusetzen, keine Möglichkeit zwischen irgendeinem Satz einen Schnitt einzubauen. Kohn, der Mörder, Kathryn und ihre Verteidiger müssen bis zum Schluss der Szene durchhalten.

Die Protagonisten geben noch einmal alles, dann senkt Kohn die Stimme – und einer sinkt zu Boden.

"Die Rheinpfalz" Nr.154 vom 6.Juli 2006